zettie94 hat geschrieben:Sorry, aber Streik sollte in einem Arbeitskampf das letzte Mittel sein, wenn alle anderen Massnahmen nicht zum Erfolg geführt haben. Die GDL beharrt hier hingegen stur und ohne jegliche Kompromissbereitschaft auf völlig unrealistischen Maximalforderungen, ohne auch nur bereit zu sein, mit der DB zu verhandeln.
zettie94 hat geschrieben:In der Schweiz haben beide Seiten begriffen, dass ein Streik nicht nur dem Arbeitgeber, sondern auch den Arbeitnehmern schadet und deshalb im Gesamtarbeitsvertrag sowohl bei der SBB wie auch bei anderen Unternehmen des öffentlichen Verkehrs eine Friedenspflicht vereinbart.
Hallo Julian,
Deine Aussagen zeigen mir leider, dass Du vom deutschen Tarifrecht, Verhandlungsspielregeln und auch der deutschen Arbeitswelt null Ahnung hast. Das kann ich Dir leider nicht verübeln, denn Du wohnst jenseits unserer Grenzen und in der Schweiz gelten sicher andere Regeln - ich kenne beispielsweise den Rechtsbegriff "Gesamtarbeitsvertrag" aus dem deutschen Arbeitsrecht nicht. Auch einen Tarifvertrag wirst Du angesichts Deines Alters und der Offenbarung, "auf Propagandakurs der Kapitalvertreter" zu sein, wohl noch nie selbst verhandelt haben. Da habe ich Dir (leider) einiges voraus und ich weiß, welche Forderungen da von den "lieben Arbeitgebern, die nur das Beste für ihre Mitarbeitenden wollen, aber die böse Gewerkschaft lässt sie ja nicht" gestellt werden.
So habe ich selbst erlebt, dass auf dem Papier 40 Stunden stehen sollten, aber in der Tat ein Freibrief für 24/7 geschaffen werden sollte. Das ist mit deutschen Gesetzen nicht vereinbar, aber das interessiert sie auch nicht. Natürlich verlangen sie formal, dass das eingehalten wird, aber es gibt reichlich Beschäftigte, die lassen sich so unter Druck setzen, dass sie jenseits gesetzlicher Rahmenbedingungen arbeiten. Wenn es irgendwie geht, dann werden sie dafür auch belohnt, aber nicht so, dass daraus eine tatsächliche geleistete Stundenzahl erkennbar wird. Und natürlich ist dieses Entgelt weitab von dem, was die Überstunden kosten würden, die es beim geforderten Modell auch gar nicht mehr gegeben hätte: Nachtarbeit, Feiertagsarbeit, Wochenende - alles wäre abgeschafft gewesen.
Als Betriebsrat hatten wir eine Führungskraft strafbewehrt abzumahnen, weil eine ihrer Schutzbefohlenen 60 Wochenstunden gekloppt hat, auch am Wochenende. Das wurde wegen des guten Vorbilds dann auch von Familienvätern usw. verlangt und Druck ausgeübt. Das hatte zur Beschwerde geführt, wir mussten prüfen und beweisen; genau das haben wir getan. Und was antwortet die Führungskraft? Die Verantwortung ist doch auf den Arbeitnehmer übertragen, die Führungskraft trifft doch keine Schuld. Sie kann es ja nicht mal prüfen.
Da sind wir eingeschritten und haben eine Option gesucht, nicht gleich eine Anzeige an die Aufsichtsbehörden zu erstatten oder das Arbeitsgericht anzurufen. Genau das hätte das nämlich zur fristlosen Kündigung der Betroffenen geführt, weil sie Arbeitszeitbetrug begangen hat. Die gesetzlichen Höchstgrenzen kannte sie und wenn sie die nicht einhält, muss sie das verschleiern. Aber genau das hat der Arbeitgeber doch nie verlangt und hätte er auch nie geduldet... Na, verstanden, wo der Hase läuft?
Zurück zum Tarifvertrag:
Friedenspflicht
Die gibt es auch in Deutschland und ist Klausel in jedem Tarifvertrag während seiner Laufzeit. Wird dieser gekündigt oder läuft der aus, sind beide Parteien zum verhandeln verpflichtet. Erklärt eine Seite das Scheitern der Verhandlungen, endet die Friedenspflicht.
Streik
Länder, in denen der Arbeitnehmerseite dieses Recht verweigert wird, haben Gewerkschaften, die Tiger ohne Zähne sind. Da kannst Du Dir die Arbeitsbedingungen in den USA, vor allem aber Ländern wie der Türkei anschauen, wenn Du die Folgen schwacher Gewerkschaften sehen willst. Ein Streik ist immer das letzte Mittel, denn er kostet eine Gewerkschaft viel Geld (Stützleistungen aus der Streikkasse). Das ist also keine Rechtsanforderung, sondern eine wirtschaftliche. Der Gesetzgeber hat aber hohe Hürden an unbefristete Streiks gelegt (z. B. Urabstimmung und Mindestzustimmung). Genau die wollen Arbeitgeber natürlich verhindern.
Angebote verhandeln
Ein Angebot wird bewertet und dann entschieden, ob es als Grundlage für Verhandlungen dienen kann. Vielleicht hast Du schon mal was von "Verhandlungsmasse" gehört? Die eigene kennt jede Seite, die der anderen muss eingeschätzt werden. Ist das Angebot nicht geeignet, einen fairen Kompromiss finden zu können, wird es abgelehnt. Dann ist es endgültig vom Tisch.
Ohne Angebot kann niemand verhandeln. Und aus Deiner Sicht muss ja erst über jedes Angebot verhandelt werden, also auch die üblichen Nullrunden für den öffentlichen Dienst zu jeder Tarifrunde. Ich erkenne, dass Dein Berufsfeld anders gelagert ist, als mit harten Managern am Tisch zu sitzen, die sich Millionenbonifikationen bewilligen lassen, weil sie dem Familienvater den Lebensunterhalt wieder kräftig zurückgeschnitten haben. Wenn Du an das Gute in Managern der Bahn und anderer Wirtschaftszweige glaubst, dann glaubst Du vermutlich auch an den Weihnachtsmann, den Osterhasen und daran, dass alle Menschen in Deinem Unternehmen Deine Freunde und Ihr eine große Familie seid. Meine Definition von Familie ist jedenfalls eine andere; da bereichert sich nicht der eine auf Kosten des anderen. Mein Beruf ist ein Job, ein Vertrag zu Zeit und Geld, meine Freunde suche ich mir selbst aus.
Lohngefüge bei der Bahn
Mein Vater hat bei der Bundesbahn und später bei der privatisierten Bahn geschafft. Ich habe als eine der Personen, die mit seinem Gehalt ernährt wurden, zwei Welten gesehen: einen Staat, der einst noch gut für seine Bediensteten sorgte, dann das radikale Sparen auf Kosten der Belegschaft und schließlich eine AG, die sogar Rechtsnormen mit Füßen getreten hat. Mein Vater musste sich selbst das, was ihm
vertraglich zugesichert war, 1994 (Gründung des Unternehmens) vor Gericht erfolgreich erstreiten. Das prägt meine Wahrnehmung sehr deutlich, denn der Auslöser war, dass neueingestellte Arbeitnehmer für deutlich weniger (wir reden hier von vierstelligen DM-Beträgen monatlich) dieselbe Arbeit machen sollten wie das bisherige Stammpersonal. Entsprechend sah sich das Privatunternehmen auch nicht mehr in der Pflicht, jahrzehntelange Berufserfahrung zu honorieren.
Und welches "Angebot" ist das, wenn der DB-Personalvorstand Seiler "11 Prozent mehr" durch die Medien posaunt und verschweigt, dass die über einen Zeitraum von 32 Monaten verteilt werden sollen? Die Lebenshaltungskosten sind um diesen Wert binnen 12 Monaten gestiegen und bis heute nicht ausgeglichen. Deutschland gleitet wegen der eingeknickten Binnennachfrage endgültig in die Rezession. Und nun wollen die noch fortschreiben, dass die Reallohnverluste für weitere drei Jahre zementiert werden? Augen auf beim Eierkauf! Und nicht alles glauben oder ungeprüft nachplappern, was die Bonzen so erzählen. Wenn es um ihr Salär geht, sind sie auch nicht sparsam.
Ich kenne viele Bundesbahner und auch einige heutige Lokführer (DB Fernverkehr und andere private Unternehmen). Keiner, der das Rentenalter erreicht hat oder anderweitig früher "abspringen" konnte, vermisst diesen Laden. Das Vokabular, das ich vernehme, verstößt leider gegen die Netikette. Die Nachgewachsenen haben Löhne, die nur mit den vielen Zuschlägen für Nacht-, Wochenend- und Feiertagsarbeit sowie Überstunden reichen, um eine Familie ernähren zu können.
Ganz ehrlich, da würde ich nicht arbeiten, denn das kostet irgendwann die Gesundheit. Wenn ich meine Kinder nicht mehr oder kaum sehe, daheim nicht zum Schlafen komme, weil alle anderen aktiv sind und ich mit 50 und mehr Jahren auch noch Wechselschichten für das bisschen Geld kloppen müsste, dann würde ich lieber auf Bürgergeld umschwenken. So groß ist die Differenz gar nicht, wenn ich meine Gesundheit und nicht das Geld zum entscheidenden Maßstab mache.
Und genau da setzt die GdL an und genau deshalb haben sie meine Zustimmung! In diesem Land ändert sich nichts, solange Deutsche nur maulen und meinen, es denen mal mit "Protest wählen" zu zeigen. Meinetwegen sollen sie den Schienenverkehr mal zwei Monate stilllegen. Deutschland wird schon vorher merken, welche Rolle jedes Zahnrädchen im Getriebe spielt.
Wie es sonst läuft, haben wir beim Gesundheitspersonal in der Corona-Pandemie gesehen: viel von der Politik gelobt, immer wieder die zu geringen Löhne angemahnt, kräftig und jeden Abend für unsere Helden geklatscht und jetzt ist plötzlich wieder kein Geld da. War wohl auch nur einer der vielen Wahlversprecher.
Holger